Montag, 31. August 2020

Bergtagebuch: Die flotte Koppe

Aufzeichnung einer Expedition auf die Schneekoppe

Es ist ein kühler Sommertag, graue Wolkenbänke und Sonnenstrahlen ringen um die Vorherrschaft am Himmel. Nach langer Fahrt stehen wir verloren an der Bushaltestelle am Rande eines Parkplatzes herum. Gasthäuser in eigentümlicher, kantiger Bauweise umgeben uns. Ihre seltsame Form resultiert sicher aus der Anpassung an die widrigen Bedingungen so hoch oben im Riesengebirge, wo der Winter oft ganze drei Monate dauert und gelegentlich sogar Schnee fällt, der länger als eine Woche liegenbleibt - lebensfeindliche Bedingungen, die sich bei uns daheim in Norddeutschland kaum jemand vorstellen könnte. So kam es, dass wir einen fatalen Fehler begingen, der einem Bergmann eigentlich nicht passieren sollte: Wir haben den Berg überschätzt.

Auch die Skifahrer leben unter härteren Bedingungen als anderswo, müssen sie doch derart schmale Brücken überqueren, um auf die Piste zu gelangen.

Dies also ist Pec pod Sněžkou (dämliche Eindeutschung: Petzer), der letzte Vorposten der Zivilisation (abgesehen von diversen Häusern, Eisständen, Imbissbuden, einem polnischen Gasthaus, einem Souvenirshop und der Seilbahnstation). Denn diese Ansiedlung liegt im Riesengebirge unterhalb der Sněžka (schöne Eindeutschung: Schneekoppe).

Hier beginnt unsere bislang größte Herausforderung (abgesehen von diversen Wanderungen in den Alpen). Wir wollen als erste Menschen (abgesehen von tausenden Touristen jährlich) den höchsten Gipfel der Tschechischen Republik bezwingen - und zwar ohne jegliche technische Hilfsmittel (abgesehen von der Seilbahn auf dem Rückweg und der Kartenapp auf dem Handy). Es ist ein gewagtes Unterfangen, doch gibt es kein Zurück. Der Berg ruft! Er ruft: "Bitte hinten anstellen!"

Denn während wir durch das Tal der Úpa die Ortschaft verlassen, sehen wir an der Talstation der Seilbahn zahllose Menschen anstehen. Entschlossen schreiten wir vorbei, denn als echte Wanderer ist solch ein komfortables Verkehrsmittel natürlich unter unserer Würde (außer auf dem Rückweg).

Das Flüsschen Úpa rauscht nicht nur über kleine Wasserfall-Stufen, sondern bildet auch einen Stausee, an dessen Ufer Kinder durch das Geäst eines Kletterwaldes streifen oder auf einer Sommerrodelbahn heruntersausen. Nur diese harten Bewährungsproben können den Nachwuchs auf das Überleben in dieser rauen Umgebung vorbereiten.


Nun müssen wir wählen, auf welcher Route wir den Aufstieg wagen. Sollen wir sofort bergauf steigen und die beliebteste Route über die Růžová Hora (Rosa Berg, der allerdings grün ist) unterhalb der Seilbahn wählen? Nein, wir wagen es nicht - zu groß ist die Gefahr, von Menschenmassen umgerannt zu werden oder sich mit der grassierenden Seuche zu infizieren.

Als ich meinen Onkel hierzu befragte, wusste er sogleich Rat und beschrieb eine lange, ausholende Strecke über so gut wie sämtliche umliegenden Berge und Berghütten, für die wir vermutlich mehrere Tage benötigt hätten. Hierfür hatten wir nicht ausreichend Proviant und Geld im Gepäck.
Daher wählten wir die Route dazwischen und folgten zunächst weiter dem Tale der Úpa. Der Weg ist sogar noch asphaltiert. Die hiesige Fauna besteht aus zahmen Ziegen, gesprächigen zweisprachigen Rentnern und Softeisverkäufern. Und dort - in der Ferne ist erstmals unser Ziel zu sehen!

Unter der Schneekoppe liegt auch ein weltberühmtes Hotel, in dem sich viele Gäste so wohlfühlen, dass sie hier ganze 18 Jahre verbringen.

Nach vielen Kilometern steigen wir dann endlich bergauf und nähern uns dem Gipfel von der Seite. Nun wird es ernst: Das Muster der grauen Pflastersteine wird zunehmend lockerer, wilder und schartiger. Nur die steinernen Rinnen für die Bäche sind weiterhin ordentlich gepflastert. Diese extremen Wege rauben uns schnell unsere Kraft und zwingen uns zu einer Pause an einer alten Wasserabfüllanlage. Zweifel kommen auf: Der Berggrat scheint noch so fern, und selbst dieser ist nur ein Zwischenziel. Werden wir am Gipfel ankommen oder wird uns diese harte Umgebung rasch den Garaus machen?

Doch wir haben Glück: Überraschend schnell erreichen wir den Kamm des Riesengebirges, ein rundliches Mosaik aus Grün und Grau, da das Felsgestein bewachsen wird von seltenen Gräsern, Moosen und Flechten - den einzigen Pflanzen, die so hoch oben noch überleben können. Ketten sollen sicherstellen, dass diese nicht von Wanderern zertrampelt werden. Da dieses Jahr besonders viele Besucher zugegen sind, wurden manche zusätzlich mit engmaschigen Zäunen umwickelt.
Dieser Kamm bildet die Grenze zwischen der tschechischen und polnischen Republik. Wir können das steile Ende des Tals und die Quelle der Úpa erspähen, und viele Kilometer weiter hinten die Wiesen, auf denen die Elbe entspringt. Doch streben wir in die entgegengesetzte Richtung.
An dieser Stelle befindet sich ein roh gezimmertes Gasthaus. Ob wir hier etwas speisen können? Nein. Denn es befindet sich bereits auf polnischem Hoheitsgebiet, weshalb in der polnischen Währung gezahlt werden muss. Und es ist gerammelt voll mit Polen, welche genau das bereits getan haben. Schlagartig befinden sich überall Polen. Polen, Polen, Polen, auf dem Vorplatz, auf dem Wanderweg, überall sind auf einmal Polen. Zur Hilfe! Wir sind mitten in eine polnische Invasion geraten mit dem Ziel, die Schneekoppe dem Territorium der Tschechischen Republik zu entreißen.

Woher nur kommen all die Polen? Die Antwort können wir nach wenigen Höhenmetern erkennen: Eine Seilbahn transportiert sie einfach aus der Stadt Karpacz herauf. Denn dies ist das Paradoxon der Schneekoppe: Die nähere und größere Stadt liegt auf der polnischen Seite von Tschechiens höchstem Berg, und von seinem Gipfel ist deutlich mehr polnisches als tschechisches Land zu sehen.
Kein Wunder, dass die Polen den Berg stürmen in dem Glauben, sie hätten ein größeres Anrecht auf ihn.

So ist der letzte Teil des Aufstiegs besonders anstrengend: Nicht nur geht es steil bergauf, wir müssen auch andauernd Polen ausweichen. Die steinerne Treppe führt im Zickzack aufwärts, ohne sich um Landesgrenzen zu scheren, sodass wir mehrmals das Territorium wechseln.

Doch endlich, nach langer, nicht enden wollender (aber trotzdem recht schnell endender) Anstrengung stehen wir am Ziel. Hier bietet sich uns a) auf polnischer Seite ein unvergleichlicher Blick bis weit ins Flachland und b) auf tschechischer Seite ein vergleichsweise begrenzter, doch landschaftlich umso faszinierenderer Blick über das Riesengebirge. Die uralten, unkenntlichen, grauen Schrifttafeln geben kaum etwas darüber preis, um welche Täler und Berge es sich handelt. Dieses hier kann ich nach dem heutigen Tage immerhin zweifelsfrei als das Tal der Úpa identifizieren.

Der Gipfel selbst besteht aus einer leicht gewölbten, steinigen Fläche, durch welche sich kreuz und quer die Staatsgrenze zieht. Die Polen sind bereits hier und haben das Plateau erobert.
In diesen extremen Höhen und Temperaturen (es ist recht kühl) herrscht ein erbarmungsloser Konkurrenzkampf: Mehrere Gebäude konkurrierend knallhart darum, welches am hässlichsten ist. Der klare Sieger ist das schwarze, mit zahllosen Aufklebern zugekleisterte Ufo, welches ein geschlossenes Restaurant beherbergt. Nahrung ist hier nur schwer zu beschaffen.

Lediglich Instant-Nudeln sind im hölzernen, löchrigen Turm zu verkaufen. Da wir darauf keinen Appetit verspürten, gingen wir instant wieder hinaus.
Doch wo ist nun der wahre Gipfel, der höchste Punkt dieses Plateaus? Meiner Einschätzung nach befindet er sich in der verschlossenen hölzernen Kapelle (oder welchem Zweck auch immer die Hütte dient), zumal diese sogar eine Art Gipfelkreuz auf ihrem Dach aufweist. Das Haus erinnert mich ein wenig an den historischen Hafenkran in meiner Heimat an der Ostsee.
Gerüchten zufolge sollen neuste Messungen ergeben haben, dass sich der mit 1603,2 m höchste Punkt des Berges tatsächlich um wenige Zentimeter auf der polnischen Seite befinden soll - und die Schneekoppe gar nicht Tschechiens höchster Gipfel ist. Letzteres erscheint mir unwahrscheinlich. Der Höhenunterschied auf dem Gipfelplateau beträgt nur wenige Zentimeter, der höchste Punkt Tschechiens würde sich also allenfalls um ein kurzes Stück zur Seite und nach unten verschieben.

Erstmals seit unserem Aufbruch sehe ich auf die Uhr, um zu schauen, wie lange wir für diese übermenschliche Herausforderung benötigt haben. Ach guck, 13:10 Uhr ist es. Nicht mal drei Stunden.

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